Mia Ničić: Die vier „Kant-Fragen“

Oder: Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie

Der Essay entstand 2022 am Ende einer Einführungsphase in das (in Jahrgang 11: neue) Fach Philosophie im Unterricht des 11. Jahrgangs im Rahmen einer Schreibwerkstatt. "Die vier Kant-Fragen" haben sich seit dem 18. Jahrhundert in der Philosophie-Fachgeschichte als inhaltliche Gliederung etabliert, um unterschiedliche Teilbereiche der Philosophie zu charaktierisieren - v. a. Erkenntnistheorie, Ethik, Metaphysik und Anthropologie. Der Essay bietet daher nicht nur einen breiten inhaltlichen Überblick über philosophische Themenfelder, sondern auch zahrleiche Anlässe, die bereits zum eigenen philosophischen Nachdenken anregen.

1. Was kann ich wissen?

Nehmen wir diese Frage mal auseinander: „Was“ steht für jeden Inhalt, von dem man in der Annahme liegt, ihn zu kennen, beziehungsweise durch methodische Auseinandersetzung an das Wissen darum gelangen zu können. Was mich zum nächsten Punkt auf der Agenda bringt: „Kann“. Es geht hierbei nicht um wollen, müssen, sollten oder dergleichen, sondern einfach um die Beständigkeit der Möglichkeit besagten Inhalt als Wissen anerkennen zu können, woraus sich Fragen, wie „Was ist Wissen?“, „Woran erkennt man es?“ oder „Wann wird festgelegt, dass es Wissen gibt, das unerreichbar ist, ohne es zu kennen?“, ergeben. Das „Ich“ kann man sowohl auf Kant selbst, als auch auf den Rezipienten beziehen, was die Frage für alle zugänglich macht und sie in den Grundlagen des Allgemeinen bestätigt. „Wissen“ ist meiner Meinung nach das komplizierteste und wichtigste Wort in dieser Fragestellung. Wenn mehrere Personengruppen sich über einen Tatbestand, den sie prüfen, gewiss sind, also über die größte subjektive Sicherheit bezüglich ihrer Überzeugungen verfügen, dann nennt sich das „Wissen“ oder auch „Erkenntnis“. Die obige Frage spielt also in die Erkenntnistheorie hinein und eröffnet so diesbezüglich weitere Blickwinkel und Fragen.

Um mein Urteil über die Berechtigung einer philosophischen Grundfrage zu fällen, lege ich nun Kriterien fest: Eine solche Frage sollte so allgemein und offen wie nur möglich verfasst werden, also ein Haus mit keiner nicht offenen Tür und keinem nicht geöffneten Fenster sein, und der Garten dürfte keinen unüberwindbaren Zaun besitzen. Die Begriffe der Frage erlauben viele offene Interpretationen, ohne einem eine Richtung vorzugeben. Es ist eine Frage nach dem Wissen um das Wissen, das wir haben oder nicht haben können. Eine Frage der Möglichkeiten und ihrer Vielschichtigkeit, weshalb ich Kant darin zustimmen würde, dass sie an unseren Grundfesten rüttelt, während sie diese gleichzeitig ausmacht. Diese Frage ist der Inbegriff davon, wenn man sein Spiegelbild in Frage stellt, während dasselbe umgekehrt geschieht.

Als Beispiel: Photosynthese existiert, das Wissen darum mittlerweile auch, aber nehmen wir mal an, wir wüssten nicht Bescheid über diesen Vorgang. Um Wissen erreichen und nutzen zu können, muss man lernfähig sein. Wissbegierig nicht zwingend, da man zum Beispiel auch unabsichtlich an das Wissen um die Existenz von Fischen kommen kann, indem man versehentlich ins Wasser fällt, aber, um auf die Photosynthese zurückzukommen, macht das Unwissen über diesen Vorgang den Vorgang selbst nicht zu Unwissen? Kann Wissen mit Unwissen koexistieren? Ich denke, es ist eine Frage der Perspektive. Weiß man selbst etwas nicht,sagt man ja auch nicht „Es ist unbekanntes Wissen“, sondern vielmehr „Es ist mir unbekanntes Wissen“, wobei man trotzdem von der Existenz dieses Wissens überzeugt ist, wegen mehrstimmiger subjektiver Gewissheiten.

Aber wenn dieses Wissen nun keinem Menschen zugänglich wäre? Schwarze Löcher kann man auch nicht sehen. Auf ihre Existenz ist man wegen Reaktionen um sie herum gekommen und wegen der Tatsache, dass viele bis sehr viele Wissenschafftler von einer Krümmung in der unheimlich großen Dichte, der Singularität, ausgehen, was diese Überzeugung zu einer Vorstufe erchten Wissens macht. Wir wissen nicht, was wir nicht wissen, aber das schwarze Loch beweist das Gegenteil, nur, dass wir glauben müssen, dass da etwas ist, weil Reaktionen, laut unserem bisherigen Wissen, sonst nicht stattfinden könnten. Aber glaubten wir an schwarze Löcher, so wären wir bereit physikalische Gesetze über den Haufen zu werfen, die wir zu unserer Weltverständnis benötigen.

Neues Wissen kann altes Wissen nichtig machen. Wissen kann nur auf den Raum der Vorkommnisse definiert werden. Oben und unten ist eine Frage der Gravitation. Wurmlöcher enthalten Unendlichkeiten, die unsere endlichen Gehirne nicht umfassen können. Links und rechts ist eine Frage der Perspektive. Nicht jedes Wissen ist uns erkenntlich, manches Unwissen aber schon. Und umgekehrt. Genauso gut könnte ich fragen, ob das Universum endlich oder unendlich ist.


2. Was soll ich tun?

Mit verschiedenen Betonungen klingt die Frage zweifelnd oder zynisch. Es ist keine Frage, auf die man in nur einem Idealfall antworten kann. Ich denke, sie ist situationsabhängig: hast du einen Fehler gemacht und fragst mich um Rat, so antworte ich: „Entschuldige dich.“ Das ist insofern problematisch, weil erstmal die Definition eines Fehlers klar sein muss und dann das Erkennen eines begangenen Fehlers. Bereut man jeden Fehler? Bereue ich es zum Beispiel, die Zeit falsch eingeschätzt zu haben und nun die spätere Bahn genommen zu haben, wobei ich die Liebe meines Lebens kennenlernte? Nein. Ich bin der Überzeugung, dass es häufig nicht der Fehler selbst ist, sondern die Folgen, die für Reue sorgen können oder eben nicht.

Was soll ich tun? Im Hinblick worauf und hintergründig: wozu? Einer Person, die allergisch gegen Himbeeren ist, der bietet man keine an, weiß man Bescheid. Pauschal lassen sich keine Richtlinien festlegen. Moral, was ist das? Ist es nicht viel mehr „Was sollte ich tun?”, als „Was soll ich tun?” Ist mit „sollte” die Frage nach dem Gewissen nicht besser beantwortet? Dem entgegenzusetzen ist, dass „sollte” realitätsferner klingt, als „soll”, und „sollte” klingt, als gäbe es feste Verhaltensangaben, was teilweise der Wahrheit entspricht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar”, steht im Grundgesetz. Nächstenliebe wird in der Bibel hoch gepriesen. Ich sage, die zweite Frage ist leicht zu beantworten, kennt man den Glaubensgrundsatz einer Person.

Leichter noch zu beantworten ist diese Frage für einen selbst. Wenn man alles außen vor lässt, abgesehen von sich selbst, dann lernt man sich erst kennen. Würde ich zur Schule gehen, gäbe es keine Pflicht? Würde ich Abitur machen, könnte ich auch ohne meinen Traumberuf ausüben? Wäre mein Traumberuf noch immer mein Traumberuf, hätte mein Elternteil mir diesen nicht in frühester Kindheit näher gebracht, weil er ihn selbst ausübt?

Ohne Moral sänke die Hemmschwelle. Menschen machen aus Angst vor möglichen Folgen nichts, stehen sich selbst auch im Weg. Würdest du morden, wenn es keine gesetzlichen Folgen gäbe, die dich in deinem Leben einschränken? Die gesellschaflichen Werte und Normen wurden nicht mit uns geboren, sie stehen im ständigen Wandel. Soll ich also entsprechend meiner Epoche handeln? Oder doch lieber entsprechend den Folgen meines Handelns, die ich mir wünsche? In wandelnden Realitätsvorstellungen hat die zweite Kant-Frage ihre Berechtigung.


3. Was darf ich hoffen?

Etwas zu dürfen impliziert dem vorausgehende Richtlinien, Regeln oder Gesetze, die das Hoffen auf xy unter bestimmten Umständen nicht erlauben, was nicht ausschließt, dass man nicht trotzdem darauf hoffen dürfte. „Du darfst nicht auf einen einfachen Weg hoffen, wenn du große Ziele hast.” Wer legt „große Ziele” fest?

Die eigene Ansicht macht die Definition. Jemand, der querschnittsgelähmt ist, darf es als großes Ziel empfinden irgendwann aufrecht zu stehen, doch ein physisch und psychisch gesunder Mensch sollte das Stehen – man merkt, auch hierbei greife ich auf das „sollte” als Anlehnung zur vorigen Frage zurück, was die durchdachte Verknüpfung der Fragen beweist – nicht als großes Ziel, sondern vielmehr als großes Geschenk ansehen, denke ich. Der Weg macht also das Ziel.

Wo liegt nun der zu prüfende Bezug zur Religion? Darf man auf Wiedergeburt, den Himmel, das Paradies, ein Leben nach dem Tod hoffen, ohne gläubig zu sein? Kann man an Gott, Götter oder andere Formen des Höheren glauben, ohne getauft zu sein? Ja, man lässt sich taufen, wenn man daran glaubt. Oder man wird getauft, wenn man zu jung ist, um selbst zu entscheiden und die Eltern dafür sind. So klingt das ziemlich barbarisch, auch, wenn es getan wird, um sein Kind beschützt zu wissen von einer höheren Macht. Die Religionsfreiheit erlaubt auch das Konvertieren.

Ist Glaube Hoffen? Für viele schon, aber eben auch ein sicherer Hafen. Darf ich hoffen, wenn ich Böses getan habe? Auch hier muss man sich fragen, worin man Böses eigentlich begründet sieht? Wenn man schadet? Sich selbst und/oder anderen? In gewissen Religionen geht man beichten, und anderswo hat man sein Recht, dazuzugehören, verwirkt.

Prinzipiell darfst du hoffen, was du dir erlaubst zu hoffen, und ohne weiteren Kontext würde ich auch hierbei bleiben. Dein Gedankengut, deine Hoffnungen, deine Freiheit, daran zu glauben. Wer bin ich, dir das zu nehmen – durch erlassene Grundsätze, durch die Denk-Diversität im Glauben und durch Gesetze, die nicht in jedem Land gleich gelten, zu nehmen? Das Wort „Darf“ impliziert eine große Provokation in meinen Augen, die zu ebensolchen Diskussionen über Unerlaubtes und Erlaubtes anregt. Hoffe auf Gutes, Realitätsnahes und -fernes. Hoffe, denn Hoffnung führt dich durch dunkelste Zeiten, aber verbiete dir das Hoffen nicht, nur, weil die Zeiten hell wirken, denn Hoffen ist nichts, wofür du eine Erlaubnis bräuchtest. Sollte es jemals dazu kommen, haben wir als freie Gesellschaft nicht versagt?


4. Was ist der Mensch?

Eine Zusammensetzung aus Knochen und Organen. Eine Laune des Universums. Säugetiere. „Cogito ergo sum.” – -René Descartes. „Ich denke, also bin ich.” Was sind wir? Wir sind. Der chinesische Dichter und Philosoph Zhuangzi denkt, wir könnten Schmetterlinge sein. Er träumte mal, er wäre einer, wachte dann auf und war nicht sicher, ob er eine Mensch sei, der träumte, ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der träumte, ein Mensch zu sein. Hier eine beispielhafte Darstellung eines solchen inneren Konflikts:

„Schmetterlinge besitzen nicht genügend Neuronen, um wie Menschen in all unserer Komplexität zu denken.”

„Vielleicht träumst du, du würdest menschlich denken.”

„Mit unseren Sinnen nehmen wir wahr und schlussfolgern aber.”

„Vielleicht träumst du nur von der Möglichkeit.“

„Was macht Sinn, wenn nicht unsere Sinne?”

„Vielleicht brauchen Schmetterlinge den Sinn um dieses Wissen nicht, um sinnvoll zu leben.”

„Aber dann ist ja nichts sicher, zu wissen!”

„Die Frage des Träumens stellt alles in Frage.”

„Alles ist sinnlos.”

„Ist es das?”

„Ist es das nicht?”

„Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.” – Hamlet, Prinz von Dänemark, 3. Aufzug, 1. Szene, von Shakespeare.

Braucht etwas Existenz, um es zu definieren? Beweise? Glauben? In ebendiesem Unwissen und den weit auseinandergehenden Fragestellungen, die die vierte Kantfrage weiterführen, sehe ich ihre Berechtigung als eine solche Grundfrage der Philosophie.