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Vom Verbot, ein Rädchen zu sein - Nachdenken über Hannah Arendt

von Alban Peters

Kaum einer wird es bemerken, der nicht weiß, dass es sich dort irgendwo befindet: Ein unauffälliges Metallschild, das eines der Eckhäuser des Lindener Marktplatzes als Geburtsort Hannah Arendts ausweist. Am deutlichsten springt dem vorübergehenden Betrachter noch das rote Wappen der Landeshauptstadt Hannover in die Augen, das wie ein Pfeil auf die knappen Informationen über die Philosophin und Politologin zeigt - lichtgraue Schrift auf hellgrauem Untergrund, vor allem durch einen Rahmen aus Rost vom etwas dunkleren Grau der Hauswand hervorgehoben.

Nur angedeutet sind dort die zwischen ihrem Geburtstag am 14. Oktober 1906 und ihrem Tod am 4. Dezember 1975 in New York liegenden Stationen ihres Lebensweges. Ergänzen ließen sich unter anderem die Arendts Persönlichkeit und Denken prägenden Erfahrungen des Selbststudiums (philosophischer) Literatur bereits zu Schulzeiten, ihr Studium der Philosophie, der Theologie und der griechischen Philologie sowie ihre Promotion bei Karl Jaspers. 1933 emigrierte sie zunächst nach Frankreich, wo sie im Rahmen der zionistischem Bewegung soziale Arbeiten übernahm, ihre wissenschaftlichen Studien fortsetzte und als "feindliche Ausländerin" fünf Wochen im südfranzösischen Lager Gurs interniert war, aus dem sie 1940 floh. Erst 1941 erreichte sie, gemeinsam mit ihrem zweiten Mann Heinrich Blücher, New York.

Fassungslos über den Zusammenbruch aller moralischer Werte in Nazideutschland und Europa, tief enttäuscht vom Verhalten Einzelner (insbesondere dem ihres Lehrers Martin Heidegger) ist Hannah Arendt bis heute eine der scharfsinnigsten Denkerinnen, die sich je darum bemühten, die Mechanismen des Totalitarismus zu durchleuchten und zu verstehen.

Die Bürde der Verantwortung

Trotz hocheffizienter Unterdrückungsapparate, die sich durch eine menschenverachtende und verbrecherische Gesetzgebung selbst legitimierten, gab es jedoch "in finsteren Zeiten" (B. Brecht: An die Nachgeborenen) stets auch Menschen, denen es gelang, sich dem entgegenzustellen und in Übereinstimmung mit unabhängigen moralischen Maßstäben zu handeln. Nicht zuletzt eigene Erfahrungen führten dazu, dass Arendt in ihren Untersuchungen immer wieder beharrlich auf diese (auf Kant zurückgehende) Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität hinwies. Nicht die Gesetze eines Staates könne jemals als Richtschnur für das eigene, moralische Handeln dienen, denn auch die Funktionalität eines Unrechtsstaates sei durch diese schließlich gewährleistet, im Extremfall sei sogar ein "Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)" der Staatsführung mächtig (H. Arendt: Über das Böse, S. 37, sie zitiert hier I. Kant: Zum ewigen Frieden, S. 307).

Kein Mensch könne daher die Verantwortung für sein eigenes Handeln an Autoritäten abgeben, seien es Vorgesetzte, die "öffentliche Meinung" oder "wissenschaftliche Moden" (H. Arendt: Über das Böse, S. 21) - wie auch Kant gesteht Hannah Arendt das "Recht zu Gehorchen" keinem Menschen zu (H. Arendt, J. Fest: Eichmann war von empörender Dummheit, S. 44). In dieser Bürde, die sie dadurch der Person des Einzelnen auferlegt, der Verpflichtung, sich jederzeit alleine für sein Handeln rechtfertigen zu können, spiegelt sich ein durchweg positives Menschenbild wider. Wer einem Menschen zumutet, Verantwortung für seine Entscheidungen zu übernehmen, kann ihn nicht ohne sein Würde zu betrachten, die jeder Person, jedem "Jemand" zukommt:

Das fast automatische Abwälzen von Verantwortung, wie es in der modernen Gesellschaft üblich ist, kommt in dem Augenblick, in dem Sie einen Gerichtssaal betreten, plötzlich zum Stillstand. Alle nicht spezifischen, abstrakten Rechtfertigungen brechen zusammen - alles, angefangen beim ,Zeitgeist' bis hinunter zum Ödipuskomplex, womit zu verstehen gegeben wird, dass Sie kein Mensch sind, sondern eine Funktion von etwas und deshalb selbst eher ein austauschbares Ding denn eine Jemand.
(H. Arendt: Über das Böse, S. 21)

Moralische Fragen vor Gericht

Nur selten werden moralische Fragen öffentlich vor Gericht verhandelt - zu selten, befand Arendt. Auch diese Aspekte müssten dort Beachtung finden, die Fragestellungen entsprechend modifiziert werden:

In moralischem Angelegenheiten ist es das Verhalten des Einzelnen, um das es geht, und das offenbarte sich in Gerichtsverhandlungen, wo nicht mehr die Frage gestellt wurde: War er ein großes oder kleines Rädchen im Getriebe?, sondern wo man fragte: Warum hat er sich bereit erklärt, überhaupt ein Rädchen zu werden?
(H. Arendt: Über das Böse, S. 151)

Das Jerusalemer Gericht, das 1961die Anklage gegen Adolf Eichmann verhandelte (der seither als Inbegriff des "Rädchens im Getriebe" gilt), musste sich von der Prozessbeobachterin Hannah Arendt den Vorwurf gefallen lassen, diesen Fragen in der Urteilsbegründung nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Die Juristen sahen sich nach den Darstellungen Arendts einem Angeklagten gegenüber, der sich selbst von jeder persönlichen Verantwortung für die Deportation und Vernichtung der Juden aus Deutschland freisprach - unter Berufung auf geltendes Recht im "Dritten Reich" oder die Befehlsgewalt höherer Entscheidungsträger, das Argument, er habe keine andere Wahl gehabt und nicht anders handeln können, oder er habe - Kant missverstehend - nur seine "Pflicht" getan (H. Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 231). Geradezu fassungslos reagierte Arendt in ihrem Prozessbericht Eichmann in Jerusalem auf seinen Unwillen und die (in ihren Augen sogar glaubwürdige) Unfähigkeit, die eigene Verantwortung überhaupt zu erkennen. Ihr Bild Eichmanns, das zunächst durch die skandalbegleitete Veröffentlichung des Berichtes in The New Yorker seine Verbreitung fand, zeigt ihn daher als einen intellektuell beschränkten Menschen von "empörender Dummheit" (H. Arendt, J. Fest: Eichmann war von empörender Dummheit, S. 44). Diese Charakterisierung ist - vermutlich zu Recht - immer wieder kritisiert worden, da sie das Geschick, mit dem Eichmann seine Karriere in der SS-Hierarchie gezielt und machtbewusst vorantrieb, nur wenig beachtete.

Im Mittelpunkt von Arendts beobachtendem Kommentar stehen aber in erster Linie moralische Fragen, und hier ist der Kern ihrer Überlegungen nach wie vor für jedes gesellschaftliche Handeln relevant. Gedankenlosigkeit sowie das unreflektierte Delegieren von Entscheidungen und Verantwortung rechtfertigt niemals irgendeine Handlung. Niemand hat zu irgendeinem Zeitpunkt das Recht, sich selbst zum "Rädchen" zu degradieren und auf diese Weise ohne eigenen Antrieb zum bloßen Funktionieren von gesellschaftlichen - insbesondere totalitären - Prozessen beizutragen.

Im "Dialog mit der Welt": Wissen und Verstehen

Die Person Eichmann irritierte Hannah Arendt zutiefst - zu groß erschien ihr die Diskrepanz zwischen dem "Bösen", dessen er angeklagt wurde, und der "Banalität" der von ihm geschilderten Handlungen und Motivationen (H. Arendt: Eichmann in Jerusalem, Untertitel). Und das, was sie irritierte, untersuchte sie - meist schreibend - so lange, bis sie glaubte, es begreifen zu können. Ebenso intensiv wie mit Eichmann als einzelnem Akteur des Naziregimes beschäftigte sich Arendt daher auch mit dem gesamten Phänomen des Totalitarismus, vor allem in ihrer 1951 erschienenen Abhandlung The Origins of Totalitarianism. Hier erwies sie sich - um im Bild zu bleiben - als wahrhaft analytische Feinmechanikerin: Penibel untersuchte sie Zahnräder und -rädchen, Schräubchen, prüfte Antriebsfedern, Hebelwirkungen und Übersetzungen, um den gesamten totalitären Apparat zu verstehen. "Verstehen" bedeutete ihr dabei nicht, lediglich einzelne Phänomene und Bestandteile zu untersuchen, sondern das Begreifen von Zusammenhängen, Wechselwirkungen und Prozessen. Erst das umfassende Verständnis seiner Umgebung ermögliche es dem einzelnen, diese zu erkennen, zu beurteilen und sich dadurch mit den ihm ständig begegnenden Irritationen zu versöhnen (vgl. H. Arendt: Denken ohne Geländer, S. 58). Für Arendt selbst war dieser Dialog mit der Welt geradezu ein Grundbedürfnis, eher ein Verstehen-müssen als ein Verstehen-wollen (vgl. H. Arendt: Ich will verstehen, S. 48).

Das Jerusalemer Gericht, das 1961die Anklage gegen Adolf Eichmann verhandelte (der seither als Inbegriff des "Rädchens im Getriebe" gilt), musste sich von der Prozessbeobachterin Hannah Arendt den Vorwurf gefallen lassen, diesen Fragen in der Urteilsbegründung nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Die Juristen sahen sich nach den Darstellungen Arendts einem Angeklagten gegenüber, der sich selbst von jeder persönlichen Verantwortung für die Deportation und Vernichtung der Juden aus Deutschland freisprach - unter Berufung auf geltendes Recht im "Dritten Reich" oder die Befehlsgewalt höherer Entscheidungsträger, das Argument, er habe keine andere Wahl gehabt und nicht anders handeln können, oder er habe - Kant missverstehend - nur seine "Pflicht" getan (H. Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 231). Geradezu fassungslos reagierte Arendt in ihrem Prozessbericht Eichmann in Jerusalem auf seinen Unwillen und die (in ihren Augen sogar glaubwürdige) Unfähigkeit, die eigene Verantwortung überhaupt zu erkennen. Ihr Bild Eichmanns, das zunächst durch die skandalbegleitete Veröffentlichung des Berichtes in The New Yorker seine Verbreitung fand, zeigt ihn daher als einen intellektuell beschränkten Menschen von "empörender Dummheit" (H. Arendt, J. Fest: Eichmann war von empörender Dummheit, S. 44). Diese Charakterisierung ist - vermutlich zu Recht - immer wieder kritisiert worden, da sie das Geschick, mit dem Eichmann seine Karriere in der SS-Hierarchie gezielt und machtbewusst vorantrieb, nur wenig beachtete.

Im Mittelpunkt von Arendts beobachtendem Kommentar stehen aber in erster Linie moralische Fragen, und hier ist der Kern ihrer Überlegungen nach wie vor für jedes gesellschaftliche Handeln relevant. Gedankenlosigkeit sowie das unreflektierte Delegieren von Entscheidungen und Verantwortung rechtfertigt niemals irgendeine Handlung. Niemand hat zu irgendeinem Zeitpunkt das Recht, sich selbst zum "Rädchen" zu degradieren und auf diese Weise ohne eigenen Antrieb zum bloßen Funktionieren von gesellschaftlichen - insbesondere totalitären - Prozessen beizutragen.

"Intuitives" und "eigentliches" Verstehen

Damit geht bei ihr das "Verstehen" über bloßes "Wissen" hinaus. Wer über Wissen verfüge, habe sich Tatsachen oder Forschungsergebnisse angeeignet, sie strukturiert und geordnet, aber erst das niemals endende Verstehen der Zusammenhänge verleihe diesem Wissen Sinn (vgl. H. Arendt: Denken ohne Geländer, S. 58ff).

"Wissen" und "Verstehen", so möchte man im 21. Jahrhundert noch betonen, sind auch nicht gleichbedeutend mit "Information". Nicht alle, die mit Smartphone oder Internetanschluss Zugang zu virtuellen Welten haben, verfügen zugleich über Wissen. Die jederzeit abrufbaren, oft unstrukturierten und nur wenig überprüfbaren Daten können zwar die Basis für ein tatsächliches "Verstehen" im arendtschen Sinne sein, stehen jedoch nur am Anfang des eigentlichen Verstehensprozesses, der (Bildungspolitik aufgepasst!) schon nach Arendt nicht abgekürzt werden kann (vgl. H. Arendt: Denken ohne Geländer, S. 59).

"Verstehen" ist bei Arendt aber nicht nur eine Frage von Bildung und geistigem Vermögen. Gerade durch ihre persönlichen Erfahrungen und Enttäuschungen musste sie erfahren, dass es keinesfalls immer die Intellektuellen waren, denen es gelang, eine (politische) Entwicklung von Anfang an richtig zu beurteilen und sich entsprechend zu verhalten. Unter anderem daraus schloss sie, dass es neben dem "eigentlichen Verstehen" immer auch eine Art Vorverständnis geben müsse, mit dem ein einzelner in der Lage sei, eine Situation auch intuitiv einordnen zu können:

Das Vorverständnis jedoch, als wie rudimentär, ja irrelevant es sich letztlich auch erweisen mag, wird die Menschen sicherlich wirkungsvoller daran hindern, sich einer totalitären Bewegung anzuschließen, als die zuverlässigste Information, die scharfsinnigste politische Analyse oder das so umfassend wie möglich angehäufte Wissen.
(H. Arendt: Denken ohne Geländer, S. 62)

Im Dialog mit Hannah Arendt

Der Blick auf die Tagespolitik zeigt mit seinen aktuellen Konflikten, den Auswirkungen von Machtgier und Willkürherrschaft unter den Deckmänteln von Ideologie und Religion, wie sehr wir Hannah Arendts Denken brauchen. Wenig ist darin von rostigen Verwitterungsspuren zu bemerken, wie sie die eingangs betrachtete Gedenktafel aufweist. Und natürlich bleibt es ihren Betrachtern selbst überlassen, ob sie die dort festgehaltenen Informationen lediglich zur Kenntnis nehmen, sie sich als Wissen aneignen, oder ob sie den Dialog mit Hannah Arendt und damit zugleich ihren Mitmenschen und der sie umgebenden Welt suchen.

Hannah Arendt sagt, sie habe geschrieben, um zu verstehen (vgl. H. Arendt: Ich will verstehen, S. 48). Alle, die sich mit ihren Gedanken kritisch auseinandersetzen, werden es leichter haben, der unabweisbaren Aufgabe des verantwortungsvollen Handelns in der Gesellschaft gerecht zu werden.

A. Peters

Literaturangaben

  • Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 2008.
  • Arendt, Hannah: Denken ohne Geländer. Texte und Briefe, München 2010.
  • Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 2012.
  • Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, New York 1951; deutsch: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus. Imperialismus. Totale Herrschaft, München 1991.
  • Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2008.
  • Arendt, Hannah / Fest, Joachim: Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe, München 2013.
  • Brecht, Bertolt: An die Nachgeborenen, in: Brecht, Bertolt: Die Gedichte, herausgegeben von Jan Knopf, Frankfurt a.M. 2007, S. 355-357.
  • Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, in: Werke in sechs Bänden. Band 6, Köln 1995, S. 279-333.